„Autobiografiktion“ – eine Kurzgeschichte

Die Geschichte einer unmöglichen Begegnung. Irgendwo. Irgendwann.


Ein Arbeitszimmer.

Ja, das ist gut. Ein Arbeitszimmer kann man, wenn man doch mal mehr aus dem Text machen will, auch ohne großen Aufwand auf die Bühne bringen oder als Film-Set einrichten oder so. Kammerspiel geht immer.

Ein Arbeitszimmer also – klein aber fein. Großformatige Drucke und schlicht gerahmte Poster schmücken die Wände, Fenster in andere Zeiten und fremde Welten. Vor einem großen Doppelfenster, das den Blick auf die echte Welt da draußen freigibt, steht ein großzügiger Schreibtisch aus dunklem Holz. Dahinter sitzt der Autor in seinem Bürostuhl und bearbeitet die Tastatur des Laptops, der vor ihm auf dem Tisch steht. Das Geräusch der Tasten ist durchgehend, schnell und sicher. Es ist Musik in meinen Ohren.

Das Klappern verstummt. Der Autor dreht sich in seinem Stuhl herum und schaut mich an, eine Augenbraue fragend über den oberen Rand des Brillenglasses erhoben.

„Möchtest du den ganzen Tag mit Exposition verbringen“, fragt er, „oder kommst du heute nochmal zum Punkt?“

Ich will antworten, aber ich kann nicht. All die klugen Antworten und die noch viel klügeren Fragen, die ich mir für diesen Moment zurecht gelegt hatte, sind plötzlich verschwunden, als hätte ein cleverer Dieb sich im Schutze der Nacht mit ihnen davon gemacht. Mein Kopf ist eine große, leere Halle. Ich mache einen Schritt auf den Autor zu und

„Können wir den Erzähler vielleicht weglassen?“, fragt er.

Ich halte inne. Darauf war ich nicht vorbereitet.

„Im Ernst“, sagt der Autor. „Das nervt tierisch.“

„Na gut.“ Ganz überzeugt bin ich von seiner Idee ja nicht, aber schließlich bin ich hier nur zu Gast. Also

„Also Schluss jetzt mit dieser Stimme aus dem Off. Das ist ja zum Verrücktwerden.“

Er steht aus seinem Stuhl auf.

Autor:
Hey!

Ich:
Oh. Sorry. Macht der Gewohnheit.

Autor:
Schon gut. Was kann ich denn nun für dich tun?

Ich:
Na ja, ich dachte, du könntest mir vielleicht einen Tipp geben, was ich schreiben soll.

Autor:
Ich?

Ich:
Na sicher. Du hast’s doch alles schon geschrieben, was ich noch schreiben werde. Und es scheint auch alles funktioniert zu haben, wenn ich mir die Poster an den Wänden hier so angucke.

Autor:
Ja. Und?

Ich:
Und jetzt möchte ich wissen, wo ich anfangen soll. Ich meine, es ist bald Mai, das Jahr ist quasi schon wieder zur Hälfte rum, und ich hab‘ tausend Ideen, aber nicht eine Geschichte zum Vorzeigen. Ich will einfach wissen, womit ich anfangen soll.

Autor:
Da fragst du mich was… Das Jahr ist fast zur Hälfte rum, sagst du? Von welchem Jahr reden wir denn?

Ich:
2015.

Autor:
Ah. Das erklärt natürlich vieles.

Ich:
Echt?

Autor:
Du wirst das dann alles schon sehen. Setz‘ dich einfach an den Schreibtisch – diesen Schreibtisch hast du schon, oder?

Ich:
Yep. Seit letzter Woche.

Autor:
Gut gut. Dann setz‘ dich einfach da ran und schreib‘ was.

Ich:
Aber was denn?

Autor:
Such‘ dir was aus. 2015, sagst du? Das war eigentlich alles ziemlich gut.

Ich: Aber womit soll ich anfangen? Was kommt am besten an? ‚Nen kleinen Hinweis wirst du mir doch geben können!

Autor:
Ich glaube, das wäre keine so gute Idee.

Ich:
Aber warum denn?

Autor:
Wir haben all diese Zeitreise-Filme gesehen; du weißt ganz genau, warum.

Ich:
Ich will doch einfach nur was schreiben, was Leute auch lesen wollen! Um den Erfolg geht’s mir gar nicht so sehr. Ich brauche keine Bestseller-Platzierungen oder Film-Deals oder Preise, um zufrieden zu sein. Aber gelesen zu werden, das brauch‘ ich. Ich will nicht für die Schublade schreiben, sondern für Menschen. Ich möchte Spuren hinterlassen.

Autor:
Dann fang‘ bei dir an damit. Hinterlasse Spuren an dir.


Ich:
Ich weiß nicht, ob mir das reicht.

Autor:
Und das ist das Problem. Du schreibst für imaginäre, zufällige Personen. Da würde ich auch alle fünf Minuten Twitter checken, statt mich um meinen Text zu kümmern. Du bist hergekommen damit ich dir erkläre, was du falsch machst. Aber ich kann dir da nicht weiterhelfen.

Ich:
Wer dann?

Autor:
Das hier.

Ich:
Ein Mighty Morphin‘ Power Rangers-Poster?

Autor:
Hilf mir doch mal kurz. Vorsicht, der Rahmen ist schwerer als er aussieht.

Ich:
Aber wie — oh Gott, das Ding wiegt ja ’ne Tonne — wie sollen mir die Power Rangers weiterhelfen?

Autor:
Um die geht’s nicht. Nicht wirklich. Schau!

Ich:
Hey! Hinter dem Rahmen ist ja ein Loch in der Wand! Wer sitzt denn da an dem klapprigen PC?

Autor:

Du kannst das mit der Exposition wirklich nicht lassen, was?

Ich:
Sorry.

Autor:
Das da sind wir, mit 13. Ich kann dir nicht wirklich weiterhelfen. Aber der 13-jährige [ZENSIERT], der kann das.
Will ich wissen, warum eine Stimme aus dem Off „zensiert“ brüllt, sobald ich unseren Namen in den Mund nehme?

Ich:
Na ja, ich dachte, solange unser Name nicht in der Geschichte auftaucht, kann ich wenigstens noch halbwegs den Anschein erwecken, dass der Text vielleicht nicht autobiographisch ist.

Autor:
Verstehe. Du hältst also dein Publikum für eine Bande sabbernde Idioten.

Ich:
Teilweise.

Autor:
Im Endeffekt ist ja dein Publikum und das Ausmaß seiner Idiotie auch völlig egal. Unser 13-jähriges Ich würde mir da zustimmen. Der ist viel zu sehr damit beschäftigt, drittklassige Power Rangers-Fan Fiction in grausamem Englisch zu schreiben, um sich um irgendwelche potentiellen Leser zu kümmern. Er schreibt, was ihm Spaß macht und wird sich noch Jahre später mit einem Lächeln daran erinnern.

Ich:
Stimmt. Das tu‘ ich.

Autor:
Dann mach‘ da weiter, wo er aufgehört hat. Schreib, was dir gefällt.  Sowas verlernt man nicht. Da bin ich sicher.

Ich:
Weil du es auch geschafft hast ?

Autor:
Hauptsächlich, weil gerade ein Dinosaurier mit Maske und Laser-Kanonen auf dem Rücken an meinem Fenster vorbei stampft.

Ich:
Oh. Ja. Tut mir leid.

Autor:
Schon okay. Ich mag Dinosaurier mit Maske und Laser-Kanonen. Vielleicht klau‘ ich dir den.

Ich:
Ausnahmsweise. Meinst du, wir sehen uns wieder?

Autor:
Sicher sehen wir uns wieder — spätestens, wenn du ich bist.